Am Tag zwei nach der Bundestagswahl liegt die Katerstimmung in Berlin noch immer spürbar in der Luft. Die deutschen Medien geben sich entsetzt über den Einzug der extremen Rechten ins Parlament. Doch sind sie unschuldig? Ein Kommentar über die Interdependenz zwischen Islamophobie/Ausländerfeindlichkeit, Sensationalismus und dem Vorrücken der Extremisten.

Von Abdel Azziz Qaasim Illi 


Der Vorsitzende des deutschen Zentralrates der Muslime, Ayman Mazyek, ist gestern in seinem Gastkommentar im „Tagesspiegel“ mit der politischen Öffentlichkeit alarmierend ins Gericht gegangen. Sein Fazit im Nachgang an den Wahlsieg der AFD lautet: „Wir alle tragen Mitschuld.“ Seiner Meinung nach ist es zu einfach, den Zeitgeist für das Vorrücken rechtsextremer Parteien zu brandmarken. Die Öffentlichkeit unterschätze die wahren Absichten jener Kreise weiterhin auf sträfliche Art und Weise.

Mazyek spricht wohl aus der Seele vieler Muslime und noch mehr der Nicht-Muslime. Am Ende geht es ums System. Kann das liberal-demokratische System sich selbst erhalten, die extremen Schwankungen austarieren und auf wundersame Weise zurück zur Mitte finden? Oder gerät es zunehmend aus den Fugen? Steht ein baldiger Systemwechsel zurück zum autoritären Totalitarismus bevor? Glaubt man Mazyeks Deutung des AFD-Parteibuchs, so steht am Ende der Fahnenstange die Abschaffung der liberalen Demokratie.

Doch so weit sind wir noch nicht. Bis zur Unregierbarkeit der Bundesrepublik müsste die AFD die Stimmenverteilung im Spektrum der etablierten Parteien noch um einiges weiter diversifizieren und selbst wohl nochmals im zweistelligen Prozentbereich zulegen. Ob ihr das angesichts interner Querelen gelingt, bleibt abzuwarten.

Wer dies als Anlass zum Durchatmen verstanden haben will, der hat ein kurzes Gedächtnis. Wie schnell Populisten unerwartet die Macht an sich reissen können, hat uns Trump doch erst vor Jahresfrist bewiesen. Marine Le Pen und Geert Wilders vermochten sich zwar dieses Mal nicht durchzusetzen. Am fruchtbaren Nährboden, auf dem solche Figuren gedeihen hat sich aber seither nichts geändert.

Und hier soll ausgesprochen werden, was Mazyek wohl mit Bedacht auf seine guten Beziehungen zur deutschen Medienlandschaft im Gastkommentar kategorisch umschifft: die Frage nach der Mitschuld der Medien. Dass die AFD und ihresgleichen wissen, wie sie ihr Spiel spielen müssen, kann man ihnen auch aus der schärfsten Kontraposition nicht übel nehmen. Die Kritik und den Fokus wie Mazyek schreibt, auf sie zu richten, dürfte denn auch zukünftig nicht viel bewirken. Populisten wissen das Bashing der etablierten politischen Öffentlichkeit zu ihren Gunsten umzunutzen – soviel sollte man nun allmählich verstanden haben.

Was macht es aus? Weshalb vermögen sie hüben wie drüben weiter zuzulegen? Mazyek liefert den entscheidenden Hinweis, verpasst es aber, darauf mit der nötigen Ausführlichkeit einzugehen. Gemeint sind die „weichen Ziele“, welche die AFD ins Visier nimmt, namentlich den Islam und die Flüchtlinge. Beides sind Themen, die nicht erst seit der AFD und schon gar nicht durch sie exklusiv politisiert worden sind. Vielmehr nutzt die AFD bestehende Diskurse aus und bewirtschaftet den angesammelten Unmut – bei Mazyek allegorisiert in der Figur des „Wutbürgers“. Dabei ist der Begriff genauso irreführend wie der Glaube, die AFD habe die Wut quasi im Alleingang herbeigerufen. Der Wutbürgerbegriff suggeriert nämlich, dass es einen Typus Bürger gibt, der sich durch irrationale Wut in seinen Entscheidungsfindung leiten lässt. Doch ist die Wut wirklich so irrational? Woher kommt all die aufgestaute Wut? Die Wirtschaftspolitik Angela Merkels kann es nicht sein, geht es dem Land doch vergleichsweise gut. Vielleicht die Flüchtlingspolitik. Schon eher, ist man geneigt einzugestehen. Aber warum eigentlich? Inwiefern schränken die schutzbedürftigen Flüchtlinge den Deutschen in seinem Alltag tatsächlich ein? Diese Frage wäre sehr plausibel, gäbe es die durch die Medien längst vor dem IS-Anschlag auf den Berliner Weihnachtsmarkt aufgebauten Narrative einer drohenden Gefahr nicht.

Vor dem Hintergrund der medial diskursivierten Realität erübrigt sich die Frage ohnehin. Wie sollen sich die Menschen dieser Realität noch entziehen oder gar widersetzen, wenn pausenlos vom unkontrollierten Flüchtlingsstrom, von mangelnder Integration, Islamisten und Sozialschmarotzern im Zusammenhang mit Ausländern und Muslimen die Rede ist? Wenn dem Ottonormalbürger das Gefühl vermittelt wird, Terroristen seien hinter ihm und seinem freiheitlichen Lebensstil her, Islamisten lägen auf der Lauer und warteten nur darauf, die Sharî‘a zu implementieren?

Sind die Diskursgrenzen erst einmal so weit nach vorne verschoben, dass sich mit islamophober und ausländerfeindlicher Hetze gut Geld verdienen lässt, muss man sich nicht wundern, wenn fortan auch etablierte Parteien und gestandene Politiker solche Narrative in ihre Marketingstrategie einbauen, um auf den rollenden Zug der neuen Realpolitik aufzuspringen. Freilich hat das Publikum ein Gespür für Qualität und ist in der Lage, zwischen Pionieren und Nachzüglern zu unterscheiden: Appeasement is doomed to failure – würde Churchill emphatisch einwenden. Horst Seehofer indes glaubt paradoxerweise nach wie vor das Feuer mit Benzin bekämpfen zu können und will seine CSU noch weiter nach rechts manövrieren, um damit die „offene rechte Flanke“ zu schliessen.

Nicht Dummheit aber gewiss Konzeptlosigkeit dominiert im Umgang mit der Bedrohung von rechts – wobei auch dies einfach gesagt ist. Tatsächlich liegt der Fehler im System, welches die einzelnen Akteure interdependent verknüpft und umschränkt. Jeder steht gewissermassen in Abhängigkeit der anderen und ist geneigt oder gar gezwungen, sein persönliches Handeln dem systemischen Durchschnitt anzupassen. Parteien können nicht ohne Verluste in Kauf zu nehmen, sich den medial diskursivierten Narrativen widersetzen. Der „öffentliche Druck“ zwingt sie in die Nähe des Durchschnitts zurück. Dies soll niemandem als Entschuldigung dienen, denn Ausbrüche aus dem systemischen Konventionenrepertoir sind zwar risikoreich aber unter bestimmten Umständen eine historische Pflicht.

Die verantwortungslose Berichterstattung in gewissen Medienformaten haben das politische Klima an den Rand des Chaos geführt. Dass dies erst möglich ist, kann nicht anders als mit dem Begriff „Systemversagen“ erklärt werden. Das System schützt den freien Journalismus eifersüchtig wie die Löwenmutter ihre Kinder. So eifersüchtig, dass es blind und taub für jede noch so berechtigte Form der Kritik geworden ist. Wer Journalisten kritisiert, wie kürzlich die Zürcher Regierungsrätin Jacqueline Fehr (SP), nachdem der Tagesanzeiger einem ex-Muslim Plattform geboten hatte, um einmal mehr den Islam und seine Funktionäre zu geisseln, muss mit einem Shitstorm rechnen. Die Öffentlichkeit ist nach jahrelangem Islam-Bashing derart abgestumpft, dass leere Behauptungen bekennender Islamkritikerinnen ohne jegliche Hinterfragung und bar jeder Prüfung in den Rang von Tatsachen gehoben werden. Die Konsequenzen sind vertieftes Misstrauen gegenüber dem Islam, dem Ausländer und Muslim einerseits und andererseits, was oft übersehen wird: zunehmender Unmut gegen das eigene System. Dies weil der Ottonormalbürger einfach nicht einsehen kann, weshalb der in der Boulevardpresse zum Hassprediger und Sozialschmarotzer geadelte „Islamist“ oder Ausländer weiterhin unbehelligt unter uns leben darf.

Damit soll gesagt sein: Journalisten, die auf der Suche nach der nächsten Top Story sind und sich über die Konsequenzen ihres Wirkens keine Rechenschaft ablegen oder sie schlicht verkennen, verkörpern gewissermassen das oben beschriebene Systemversagen. Sie sind eine wesentliche, wenn nicht die wesentliche Ursache für den heranwachsenden Unmut in immer breiteren Schichten der Gesellschaft. Ob aus reiner Erfolgsgier oder im naiven Glauben durch die anhaltende Diffamierung des „Islamisten“ der liberalen Demokratie eine Lanze zu brechen, sie sind treibende Kraft und Wind in den Segeln der vorrückenden extremen Rechten. Ach ja, wen das alles nicht überzeugt, der soll den Denkansatz wenigstens mal von hinten her durchexerzieren: Wo auch immer die extreme Rechte die Macht übernimmt, Journalisten sind ihre ersten Opfer.

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