Kairo/Bern, 23.04.2010

Von Abdel Azziz Qaasim Illi

In allen Diskussionen rund um den Islam betonen die Teilnehmerinnen und Teilnehmer mit einiger Insistenz, dass die Schweiz ein sehr tolerantes, ja mustergültig pluralistisches Land sei. Um auch gleich die Antithese aufzuzeigen, verweist man gerne auf arabische Staaten, die angeblich ebendiese Toleranz nicht kennen würden. Staaten, in denen christliche Minderheiten systematisch unterdrückt und an der freien Religionspraxis gehindert seien. Sicher ist diese Ansicht aus der eindimensionalen Perspektive unseres hiesigen, demokratischen Systems nicht völlig falsch aber auch nicht sonderlich sinnvoll. Denn und das müssen wir für die folgenden Ausführungen klarstellen: Die meisten dieser Länder hegen nicht den Anspruch, liberal-demokratisch im westlichen Sinne zu sein. Weder Muslime noch Christen haben in solchen Staaten Rechte, wie wir sie hier in unseren westlichen Systemen gewohnt sind und zu schätzen wissen sollten. Und dennoch machen einige dieser als Parias dargestellten Staaten in Sachen religiöser Toleranz unseren hiesigen Verhältnissen problemlos Konkurrenz. So ist es einem nicht-muslimischen Ausländer in Saudi-Arabien z.B. erlaubt, innerhalb seiner Expat-Parallelgesellschaft Gottesdienste abzuhalten, Alkohol zu konsumieren oder anderen ortsunüblichen Hobbies und Lebenspraktiken nachzugehen. In Ägypten kommt kein Lehrer auf die Idee, koptischen Mädchen ein Kopftuch aufzuzwingen, kein Reiseführer verlangt, dass sich Touristinnen verhüllen oder dass Ausländer auf ihr abendliches Bier im Hotel verzichten. Überall dort, wo es eine ansässige, starke, christliche Minderheit gibt, wie z.B. im Libanon, in Syrien, Palästina oder Ägypten stehen Kirchen und Moscheen Tür an Tür. Koptische Priester ziehen in ihren schwarzen Kutten mit riesigen Kreuzen um den Hals an vergleichsweise verwestlichten Al-Azhar-Imamen vorbei, ohne dass sich die muslimische Mehrheitsgemeinschaft dadurch provoziert fühlt.

Bei uns herrschen, wie gesagt, andere Paradigmen vor. Zum einen ist es den Muslimen per Volkswillen verboten, Minarette zu bauen, zum anderen fordert man Muslime – Schweizer Konvertiten eingeschlossen – auf, sich zu integrieren. Dass es auch in einer heterogenen Gesellschaft eine Form der Integration migrierender Individuen braucht, bestreiten nicht einmal die Kommunitaristen um Charles Taylor. Die Frage ist, was man unter Integration versteht. Bevor der Integrationsbegriff  sinnvoll diskutiert werden kann, müssen seine Prämissen offengelegt werden.

Zunächst muss man sich darüber im Klaren sein, welche Gesellschaftsform in der Schweiz existiert und wie sich die Beziehungen zwischen Gemeinschaft, Gesellschaft und Staat gestalten.
Weder leben wir in einer christlichen Gesellschaft, noch in einer absolut säkularisierten. Einiges zutreffender dürfte das Konzept der heterogenen Gesellschaft als analytische Kategorie sein. Sie beschreibt nämlich eine Ordnung, deren Mitglieder nicht durch die Verständigung auf einen absolut einheitlichen Wertekanon charakterisiert werden können. So leben in der Schweiz Anhänger praktisch aller Religionen, Ethnien und Lebensformen, die ihre Werte aus differenten religiösen oder philosophischen Quellen oder kulturellen Kontexten ableiten. Wie der Liller Jungfernstreit im Jahr 2008 exemplarisch aufgezeigt hat, mühen sich weite Teile der atheistischen Gesellschaft Frankreichs mit dem allen abrahamitischen Religionen inhärenten Wert der vorehelichen Jungfräulichkeit ab. Es war die Rede von archaischen Moralvorstellungen, die in der Moderne keinen Platz mehr hätten. Dass Wertedifferenzen auf allen Ebenen des gesellschaftlichen Lebens zum Tragen kommen, zeigen auch folgende Beispiele: Während der jüdischen Gemeinschaft der Samstag heilig ist, ist es den Christen der Sonntag und den Muslimen die Zeit des Freitagsgebets. Einigen Südchinesen ist der Hund oder die Katze eine Delikatesse. In Europa wird über ein universelles Handelsverbot für Hunde- und Katzenfleisch diskutiert. Genauso gut könnten muslimische Staaten den Handel mit Schweinefleisch einschränken lassen, zumal es Muslimen wie übrigens auch Juden nie einfallen würde, Schweineprodukte zu konsumieren. Die Liste divergierender Werte zwischen den Gemeinschaften liesse sich beliebig verlängern.

Infolge dieser Werteinkongruenz innerhalb der heterogenen Gesellschaft erscheint die Forderung nach Anerkennung der schweizerischen Werte im Zuge der Integrationsdebatte als irreführend und konstruiert. Wenn man über Werte debattiert, sollte man sich diese Problematik stets vor Augen führen. Wer die Anerkennung bestimmter Werte fordert, muss zunächst einmal definieren, welche Werte er genau meint. So gibt es den durchaus berechtigten Begriff der Grund- oder Kernwerte, die z.B. die Menschenrechte gemäss der EMRK aber auch die Respektierung der gesamten nationalen Rechtsordnung miteinschliesst. Es gibt wohl in der Schweiz kein Kollektiv, das sich diesem Rahmen aktiv entzieht.

Gegenüber der muslimischen Gemeinschaft manifestiert sich in den letzten Jahren eine zunehmende Werteintoleranz. Verschiedene Gruppen aus der Gesellschaft interpretieren die Grundwerte immer weiter in den Bereich der gemeinschaftsspezifischen oder erweiterten Werte hinein. Obwohl ein Kopftuch die negative Freiheit eines Nicht-Muslims in keinster Weise einschränken sollte – von seinem potentiellen Anspruch auf ungehindertes, triebhaftes Anstarren der Frau einmal abgesehen –  glaubt man hier zunehmend einen Wertekonflikt austragen zu müssen. Ähnlich verhält es sich bei vielen weiteren Fragen rund um die islamische Ethik und den Kultus. An die Stelle von gegenseitiger Akzeptanz im Wissen um differente Weltanschauungen rückt vermehrt ein hegemonialer Wertediskurs mit dem Ziel das Andere zu problematisieren. In jüngster Zeit häufen sich u.a. Konflikte am Arbeitsplatz, weil ein Muslim z.B. seinen Pflichtgebeten nachkommen möchte. Nicht das Beten des Muslims, das übrigens in fast allen Fällen in regulären Pausen abgewickelt werden kann, ist neu, sondern die Wahrnehmung, dass man einen Muslim im Betrieb angestellt hat, der zudem noch betet. Für diese Form der erhöhten Sensibilisierung sorgt der allgemeine Islam-Diskurs, welcher seit einem Jahrzehnt Muslime vor allem mit Negativa in Verbindung bringt. Auch die Schweizer Armee erliess kürzlich Richtlinien, die den Umgang mit Muslimen regeln sollen. Darin wird zwar anerkannt, dass Muslime kein Schweinefleisch konsumieren, dafür die Kultusfreiheit auf zeitgerechtes Verrichten der fünf Pflichtgebete nicht zugestanden. Darf ein religiöser Mensch seinen grundlegenden Pflichten gegenüber Gott aus niedrigen Gründen nicht mehr nachkommen, versteht er sich schnell als Opfer eines Wertetotalitarismus.

Diese Entwicklungen lassen sich auch von der Krönung des Irrationalen, dem Minarett-Verbot, nicht gesondert analysieren. Zwar befinden wir uns heute nicht im Huntington’schen „Clash of Civilizations“ Paradigma, dafür aber offensichtlich in einer Art „Clash of Values“ zwischen europäischen Gesellschaften und ihren muslimischen Gemeinschaften.

Es könnte nicht schaden, würde man sich wieder auf das Konzept der heterogenen Gesellschaft zurückbesinnen. Eine juristisch homogene Entität, mit einer verbindlichen Rechtsordnung, die darin aber vielen Gemeinschaften weitestgehende juridische Entfaltungsfreiheiten einräumt, ist wohl die pragmatischste Zukunftsperspektive für ein System, das sich gerne selbst als tolerant und pluralistisch beschreibt.

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