Kurz nach der Hinrichtung zogen Protestmärsche los
Kurz nach der Hinrichtung zogen Protestmärsche los

Saudi-Arabiens jüngste Massenhinrichtungen passen nahtlos ins Muster jenes politischen Egoismus, auf dessen Humus das schiitisch-sunnitische Massenblutvergiessen über die Jahre hinweg gedeihen konnte. Der folgende Artikel zeigt auf, dass sowohl Riad wie auch Teheran massgeblich und gezielt auf diesen Wahnsinn zugesteuert sind.

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Samstagmorgen, 2. Januar 2016: Das saudische Innenministerium gibt bekannt, dass 47 «Terroristen» hingerichtet worden seien. Wie genau bleibt den Spekulationen überlassen. Die lange Liste der «Terroristen» beinhaltet einige bekannte Namen, darunter Fâris Âl Shuwayl, besser bekannt unter seinem Pseudonym Abû Jandal al-Azdî, einer der einflussreicheren Autoren der AQAP, dessen wohl bekanntestes Pamphlet «al-bâhith ‚an hukm qatl afrâd wa dubât al-mabâhith» aufmerksamen Experten nicht entgangen sein kann. Daneben finden sich aber auch Namen, die bisher nicht öffentlich in Erscheinung getreten sind, wie etwa jener des in Saudi-Arabien aufgewachsenen Ägypters Muhammad Fathi ‚Abd al-‚Âtî, der zuletzt an der islamischen Universität in Medina Munawwara studierte und gemäss den Angaben des Innenministeriums 2003 in einer Wohnung bei Mekka zusammen mit elf weiteren Verdächtigen festgenommen worden sei. Was hier im Westen gilt, gilt in der arabischen Welt zumal: Wem das Label «Al-Qaida» aufgedrückt wird, der findet kaum mehr gute Anwälte.

Für ungleich mehr Unruhe sorgt derweil die Hinrichtung des schiitischen Imâms Nimr an-Nimr, der aus dem Osten des Königreichs stammt und dort im Zuge des arabischen Frühlings schiitische Proteste gegen die Königsfamilie anführte – angeblich mit iranischer Unterstützung. An-Nimr, der gemäss Angaben seiner Anhänger stets einen gewaltlosen Protest gegen die «Diskriminierung der schiitischen Saudis» predigte, wurde vorgeworfen, er habe zum Aufstand gegen das Königreich angestiftet und sei bei seiner Festnahme im Besetz mehrerer illegalen Waffen gewesen.

Sowohl der Iran als auch die AQAP haben die Saudis mehrfach vor einer Umsetzung dieser Todesurteile gewarnt. Während der Konflikt mit der AQAP aus Sicht der saudischen Strategieplanung ein rein sicherheitspolitischer sein dürfte – die Drohungen der AQAP können durchaus auch rhetorische Floskeln bleiben, zumal derzeit eine stille Interessenskonvergenz mit den Saudis im Jemen einen harten Schlagabtausch eher als unwahrscheinlich erscheinen lässt – kommen bei der Schiitenfragen noch ein paar heikle Implikationen mehr hinzu.

Die Rivalität mit dem Iran hat seit dem Sturz der Shah-Monarchie an neuer Brisanz gewonnen. Der alte und eher ethnisch begründete Perser-Araber Antagonismus spielte im ersten Golfkrieg letztmals eine nach aussen sichtlich tragende Rolle. Seither verschob sich der Fokus der saudischen Elite auf eine sektiererische Rhetorik gegen die Schiiten. Dass sich die städtischen Sunniten über die islamische Geschichte hinweg immer mal wieder an schiitischen Prozessionen etwa in Bagdad erregten und die Obrigkeit zum Eingreifen aufforderten, ist in diversen Chroniken überliefert. Dabei kam es lokal immer wieder zu begrenzten Gewaltausbrüchen. Dass nun aber der halbe Orient im Gewaltchaos versinkt und sich Sunniten und Schiiten bis tief in die gebildeten Schichten hinein auf den Tod hassen, muss mehr als nur strukturelle Gründe haben.

Die Angst vor der «islamischen Revolution»

Nach der Revolution gelang den Schiiten im Iran, was sich auch die sunnitisch geprägte islamische Bewegung seit dem Untergang des Kalifats gewünscht hatte: die Wiedervereinigung von Staat und Religion konzentriert dargestellt im Amt eines islamisch legitimen Herrschers. Im Iran, wo man sich nunmehr die Marke «islamische Republik» zugelegt hatte, nannte man das Konzept eines solchen idealen Herrschers velayat-e faqih. Diese von der frühislamischen Urgemeinde in Yathrib (Medina) abgeleitete Herrschaftsform in Verbindung mit einem starken islamischen Selbstbewusstsein, einer lautstark anti-israelischen Aussenpolitik sowie einer anti-kolonialen Grundhaltung strahlte auf die muslimischen Massen von Rabat bis Jakarta ihren Reiz aus. In den zwei Jahrzehnten vor der Revolution im Iran hatte die islamische Welt eine Niederlage nach der anderen gegen ihren Erzfeind Israel einstecken müssen. So langsam hatte es auch den Ägyptern gedämmert, dass der Traum einer panarabischen Lösung im Stile Abdel Nassers ausgeträumt war, als ihr zunächst verheissungsvoller Überraschungsangriff im Oktober 1973 buchstäblich in der Wüste stecken blieb.

Nicht nur die Machthaber am Nil, auch die Monarchien am Golf, fürchteten trotz ihres dem Öl-Boom verdankten Wirtschaftswunders ein Überschwappen der Idee einer «islamischen Revolution» auf ihre Subjekte. Gerade Saudi-Arabien, welches sich mittels erfolgreicher Abschottung stets gegen eine Säkularisierung der Gesellschaft zur Wehr gesetzt hatte, kam zunehmend in Erklärungsnot. Einerseits beansprucht das Königreich bis heute, ein islamischer Staat zu sein, in dem das islamische Recht herrsche, was in vielen Bereichen im Innern sicher auch zutrifft. Andererseits geschieht dies zum Preis der so unpopulären aussenpolitischen Unterordnung unter US-amerikanische Interessen sowie einer immer eklatanter an die Oberfläche tretenden sozio-ökonomischen Divergenz zwischen Hof und Untertanen. Überhaupt scheint die Herrschaftsform des Königtums alles andere als die islamisch ideale zu sein. Spätestens seit die Banû Umayya den Charakter des Kalifats in eine Dynastie umgewandelt hatten und sich in der Folge Korruption und Prasserei ausgebreitet haben, klingt Königtum in islamischen Ohren etwas Negatives an.

Im Bewusstsein um diese Wahrnehmung unter breiten Bildungsschichten tat eine diskursive Abwertung der politischen Umwälzungen im Iran dringend Not. Mit einem Lobeslied auf den verhassten Säkularisten-Shah konnte allerdings keine Überzeugungsarbeit geleistet werden. Den arabischen Monarchen kam es folglich sehr entgegen – sie haben es zumindest stillschweigend geduldet, dass sunnitische Gelehrte im Umfeld des Palasts eine immer schärfere anti-schiitische Rhetorik aufbauten. Während Irans oberster Revolutionsführer Khomeini jedes Interesse daran hatte, seine Revolution als den Beginn einer allgemein «islamischen» und nicht etwa schiitischen zu propagieren, geisselten die sunnitischen Amtsimame eben diese Revolution als «schiitischen Irrweg».

Von da an wurde eine Dynamik in Gang gesetzt, deren wahnsinnige Auswüchse wir heute ernten. Denn bei der gezielten Hetze gegen Schiiten seitens arabischer Machtapparate blieb es nicht. Auch der Iran entdeckte im Nachgang an den Sturz Saddam Husseins die Sektiererei als politischen Katalysator – oder vielleicht weniger euphemisch ausgedrückt: als Brandbeschleuniger. Bereits über den Sturz der afghanischen Taliban vermochte in Teheran aller rhetorischen Zweideutigkeiten zum Trotz keiner einer Träne vergiessen. Die Beziehungen zu den Taliban waren spätestens nach der Tötung mehrere iranischer Diplomaten 1998 in Mazar-i-Sharif an einem Tiefpunkt angelangt.

Der von George W. Bush 2002 ausgerufene Kampf gegen die «Achse des Bösen» gab den Auftakt für eine neue iranische Aussenpolitik. Der illegale Einmarsch der USA in den Irak im Jahr 2003 gefolgt vom raschen Sturz des Saddam Regimes liess den Mittleren Osten regelrecht erzittern. Sowohl die Machthaber in Damaskus wie auch jene in Teheran wussten: Würde dieses US-Projekt erfolgreich enden, wären sie wohl die nächsten Kandidaten für einen «Regime-Change». Soweit sollte es nicht kommen. Doch die vermeintlich Iran-treue schiitische Bevölkerung im Südirak erwies sich als nicht sonderlich motiviert, um eine Rebellion gegen die weitum als Befreier verstanden US-Truppen anzuführen. Und der zwar anti-amerikanische Muqtada as-Sadr pflegte eine eigensinnige Vorgehensweise. Der syrische Nachrichtendienst hatte indes eine kreativere Idee: Die durch den US-Einmarsch in den Irak freigesetzten Emotionen in der arabischen Welt, sollten logistisch und taktisch gebündelt eingesetzt werden, um die Stabilisierung des Zweistromlands unter US-Hegemonie um jeden Preis zu verhindern. Die syrischen Provinzen Hasaka und Deir e-Zour wurden in der Folge zu den wichtigsten Einfallstoren für Mujâhidûn, welche sich gegen die amerikanische Besatzung wandten. Unter den heutigen Rebellen in Syrien hatten nicht wenige zuvor im Irak gekämpft. Ihre detaillierten Schilderungen, wie der syrische Nachrichtendienst sie abfertigte, teilweise Training und Ausrüstung bot und sie schliesslich über die Grenze in den nördlichen Irak einschleuste, gleichen sich.

Von der amerikanischen Besatzung zum iranischen Protektorat

Unterdessen hat die Geschichte ihre eigenen Wendungen genommen. Während dem Iran eine Ausdehnung seiner politischen Macht in Richtung Bagdad immer besser gelang, richtet sich die Strategie der sunnitischen Rebellen seit Abû Musab az-Zarqâwî immer mehr gegen Schiiten, deren politischer Aufstieg, welcher von den sunnitischen Verlierern des Irak-Kriegs mit zunehmendem Argwohn betrachtet wurde. Diese Phase steht in engem Zusammenhang mit der Nominierung Nûrî al-Mâlikis zum Ministerpräsidenten. Die immer spürbarer werdende iranische Einflussnahme im Irak nannte man bald einen Versuch das «safawidische» Grossreich wiederzubeleben. Parallel zu den immer schwereren Anschlägen Zarqâqwîs Gefolgschaft auf Märkte und Moscheen (ganz besonders den Anschlag auf die goldene Moschee von Samarra im Februar 2006) formierten sich zusehends auch schiitische Freischärler, die ihrerseits damit begannen, Sunniten unterschiedslos zu entführen und zu ermorden. Im März 2006 war bereits von einer regelrechten konfessionellen Säuberung der Stadtteile ar-Rusâfa (Schiitenhochburg östlich des Tigris) und al-Karkh (Sunnitenhochburg westlich des Tigris) die Rede. Das Frühjahr 2006 unter Nûrî al-Mâlikî ging als Zeit der eskalierenden Gewalt zwischen den Denominationen in die jüngste Geschichte des Iraks ein.

Da fragt man sich, ob es ein Zufall war, dass Mitte Januar desselben Jahres auf der Kairoer Buchmesse im grossen Stil CDs gratis verteilt wurden, welche in übelster Weise gegen Schiiten hetzten. In einer Zeit, in der Hosni Mubaraks Regime jeden Bartträger präventiv anhalten liess, erstaunt es schon, dass auf einmal hochpolitische Inhalte so frei und grosszügig an die Besucher/innen der Buchmesse abgegeben werden konnten. Unübersehbar drehten auch saudische und ägyptische Prediger ihre Rhetorik gegen Schiiten auf den populärsten islamischen Satellitenkanälen auf.

Dem Iran gelang es in der Zwischenzeit etwas besser, seine sektiererischen Absichten zu kaschieren. Offenkundig wurden seine Interessen im Zuge des arabischen Frühlings. Während Teheran den Massen auf Tunis‘, Kairos und vor allem Bahreins Strassen applaudierte und darin Anzeichen der sich weiter entfaltenden «islamischen Revolution» erblicken wollten, änderte sich die Haltung abrupt, als auch das syrische Volk auf die Barrikaden gegen das tyrannische Asad-Regime ging. Hier war auf einmal von einer «zionistischen Verschwörung» die Rede. Entsprechend wurde dem Regime zunächst über die verbündete schiitische Hizballah Miliz, dann später auch direkt die Hand gereicht – eine offenkundige Provokation für die sunnitischen Rebellen.

Angesichts der bestialisch mordenden Asad-Truppen half jede Beschwichtigung nicht mehr. Selbst pragmatische sunnitische Denker wie Yusuf al-Qaradâwî bezichtigten Teheran fortan der Sektiererei und empfanden jeden innerislamischen Dialog zwischen Schiiten und Sunniten vor dem Hintergrund dieser politischen Realität als sinnlos. Zu offensichtlich geht es Teheran darum, die schiitisch-heterodoxen Alawi-Minderheit Bashar al-Asads um der politischen Räson Willen in Syrien an der Macht zu halten.

Die geistige Brandstiftung auf beiden Seiten trägt heute ihre fatalen Früchte. Die eine Seite toleriert das Fassbomben-Morden ihres Satelliten-Regimes in Damaskus, während die andere beiden Augen zudrückt, wenn Attentate auf Märkte und Moscheen verübt werden – immer vorausgesetzt es geschieht nicht im eigenen Land. Jede Stimme der Vernunft wird sofort der Komplizenschaft verdächtigt. Das gegenseitige Misstrauen hat sich zur schieren Paranoia ausgeweitet und setzt sich auch über regionale und kulturelle Grenzen hinweg. Ob im Jemen, Irak, Syrien, Afghanistan oder teilweise auch in Mitteleuropa: Schiiten und Sunniten sind heute scheinbar unheilbar miteinander verfeindet und weisen sich gegenseitig die Schuld am Schlamassel zu.

Dabei fehlt der Blick fürs Ganze. Die wenigsten sind bereit, die Linie nachzuzeichnen, welche in dieses sinnlose Blutvergiessen hineingeführt hat. Weder eine strukturelle Zwangsläufigkeit noch eine reine Dynamik können als treibende Kräfte entlarvt werden. Vielmehr ist es der politische Egoismus der arabischen Herrscher und ihrer schiitischen Antagonisten in Teheran geschuldet, dass man sich heute eine friedliche Koexistenz von Sunniten und Schiiten kaum mehr vorstellen kann. Die Massenhinrichtungen von 2. Januar passen in das Muster dieses politischen Egoismus. Die vermeintliche Machtdemonstration des saudischen Herrscherhauses allen «Terroristen» gegenüber dürfte seine intendierte Wirkung verfehlen und stattdessen den Aktionismus der Gedemütigten verstärken. Gewonnen ist damit sicherlich nichts.

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