Die Beschneidung der Frau findet in der öffentlichen Diskussion fast ausschliesslich vor dem Hintergrund der „pharaonischen“ Geschlechtsverstümmelung statt – so wie sie etwa in weiten Teilen Ostafrikas religionsübergreifend praktiziert wird. Doch gibt es neben dieser unislamischen, brachialen Variante auch noch eine moderatere, die durchaus in der islamischen Normativität verankert ist. Es folgt eine Zusammenfassung der diesbezüglichen Fakten.
I. Einführung
Jüngst fachten erneut Diskussionen rund um die Beschneidung der Frau auf. Angeführt wird die Debatte von Stimmen, welche mit thematisch teils unpräzisen Aussagen Emotionen zu wecken suchen, die dann leicht für eine unfundierte Islamkritik instrumentalisiert werden können. Das Thema ist sehr wohl geladen, gerade weil die zu beklagenden Missstände oft in von Muslimen bewohnten Regionen vorkommen und damit für den Betrachter die Grundlage für eine Vermengung zwischen Islam und lokalen Traditionen bilden. Trotz aller Emotionalität ist eine aufklärende und sachliche Herangehensweise für Muslime unabdinglich, denn die Frage lässt sich nicht dadurch klären, dass man pejorativ geladene Schlagworte generiert, die wie üblich bei Schlagworten zu einem Mangel an Differenziertheit führen. Im Folgenden wollen wir aus einer vergleichender Fiqh-Perspektive präzise Antworten auf die Frage der Frauenbeschneidung im Islam liefern.
Im Bericht der World Health Organization [1] werden die vorhandenen Typen von Zirkumzision in vier Kategorien aufgegliedert, wobei es bereits hier im Ansatz zu Vermengungen kommt:
Typ I: Dies ist die leichteste Form von FGC (Female Genital Cutting/ bei der WHO auch unter dem Begriff FGM Female Genital Mutilation bekannt), die das Entfernen oder Teilen der Vorhaut, die die Klitoris bei Frauen bedeckt beschreibt und so die Glans clitoridis freilegt. Dies kann verbunden sein mit einer teilweisen oder vollständigen Entfernung der Klitoris. Es ist als Klitoridotomie bekannt. Nach dem United Nations Population Fund ist diese Art der Beschneidung mit jener beim Mann vergleichbar.[2]
Typ II: Diese Art ist unter dem Namen Klitoridektomie bekannt: Die Klitoris und die Labia minora wird teilweise oder vollständig entfernt.
Typ III: Eine der extremsten Arten der FGC ist die vollständige Entfernung der Klitoris, sowie der Labia minora und majora und das Verbinden der beiden Seiten der Vulva durch Nähen mit Faden oder mit anderen Mitteln, so dass sie schliesslich zusammenheilen. Nur ein kleines, bleistiftgrosses Loch bleibt übrig, um Menstruationsblut und Urin abfliessen zu lassen. Dies ist als Infibulation oder pharaonische Beschneidung, auf ihren Ursprung bezugnehmend, bekannt.
Typ IV: Diese Art beinhaltet alle anderen Arten der genitalen Veränderungen, wie durchstechen, durchbohren oder schneiden der Klitoris und / oder der Labien; Dehnen der Klitoris und / oder der Labien; Verbrennen der Klitoris und des umliegenden Bereichs; Einschneiden, Zerkratzen (angurya Schnitte) oder Schneiden (Gishri Schnitte) der Vagina oder des umgebenden Gewebes; und das Einführen von ätzenden Substanzen oder Pflanzen in die Vagina sowie Arten der Beschneidungen, welche zu Genitalverstümmelungen führen.[3]
Alle die hier aufgeführte Eingriffe – ausser die Entfernung der Klitorisvorhaut – beruhen nicht auf islamischen Grundlagen und sind aufgrund ihrer Schädlichkeit für die Gesundheit und die sexuelle Stimulationsfähigkeit untersagt.
II. In der Sunna
Die Beschneidung der Frau im Islam besteht darin, dass die Klitorisvorhaut entfernt wird. Dies, weil der Gesandte (sas) unter anderem im Hadîth von Umm ‚‘Atyyah den Einschnitt so definiert. Eine Frau nahm die Beschneidungen der Frauen in al-Madîna vor, so sagte der Prophet (sas) zu ihr: «Schneide nicht darüber hinaus (Vorhaut), denn dies ist besser/vergnüglicher für die Frau und dem Mann lieber» [4, 5]
In einer weiteren Überlieferung von Dhihak ibn Qays At-Tabarânî und Al-Hâkim in seinem Mustadrak wird folgende Aussage getätigt: «Oh Umm ‘Atiyah, wenn du beschneidest, dann nur (die Vorhaut) und schneide nicht mehr davon ab, denn dadurch werden die Gesichter (der Frauen) glücklicher und es ist vorteilhafter für sie mit ihren Ehemann.»[6]
So ist es unter Gelehrten bekannt, dass sich der Bereich des Einschnittes nur auf die Vorhaut beschränkt und der Gesandte (sas) jeglichen tieferen Einschnitt untersagt hat. Ibn Al-Qayyim (rA) sagte: «Was die Beschneidung der Frau anbelangt, so bedeutet es die Vorhaut am oberen Eingang der Vagina wegzuschneiden. Über dem Eingang der Scheide und über dem Harnröhrenausgang, so dass die Klitoris wie ein Kern herausragt. Nur die darüberliegende Vorhaut (über der Klitoris) ist ohne sie (die Klitoris) wegzuschneiden.»[7]
Des Weiteren kommen bei den Gelehrten andere Aussagen des Gesandten (sas) in dieser Frage zur Geltung:
Das Hadîth in Sahîh Muslim von Abû Mûsâ, indem er ‘‘isha fragt, ab wann eine grosse rituelle Reinigung (al-ghusl) bei Intimitäten zwischen Mann und Frau zur Pflicht würde und sie sagte, dass der Gesandte (sas) sagte: «…wenn der Beschnittene in die Beschnittene eindringt.»[8] Diese Überlieferung kommt in weiteren Referenzwerken wie zum Beispiel in Al-Muwatta, Jami’ at-Tirmidhi, Sunan Abi Dawûd in ähnlichen Varianten vor.
Nach dieser Aussage war es Usus, dass beide Geschlechter beschnitten werden. Dagegen sprach sich der Gesandte (sas) nie aus. Im Gegenteil, laut der zuvor erwähnten und oft verwendeten Überlieferung hat er gar den Eingriffsbereich definiert.
Hinzu kommt auch das per Konsens anerkannte Hadîth zur Fitra, indem der Gesandte (sas) sagte: «Zur Fitra gehören fünf Dinge: Die Beschneidung, das Abrasieren/das Entfernen der Schamhaare, das Kurzschneiden des Schnurrbarts, das Schneiden der Finger- und Fussnägel und das Auszupfen der Achselhaare.»[9]
Dieses Hadîth bildet Konsens unter Gelehrten. Er gilt für beide Geschlechter mit Ausnahmen von der einen Stelle:. Die Kürzung des Schnurrbarts bezieht sich offensichtlich exklusiv auf den Mann. Bei den restlichen Punkten sind sich die Gelehrten einig, dass sie sich auf beide Geschlechter beziehen. Die Frage ist nur, ob die Beschneidung der Frau auch eine Pflicht ist, die bezüglich dem Mann durch weitere Überlieferung untermauert wird. Hier gehen die Meinung auseinander.
III. Die Meinungen der Gelehrten
Die Gelehrten sind sich in der überwiegenden Mehrheit einig, dass die Sunna-Beschneidung der Frau islamisch legitim ist und dass sie durch die normativen Quellen belegt ist. Die Frage ist vielmehr, wie sie die Ausführung der Frauenbeschneidung eingestuft haben:
Die Mehrheit der Gelehrte unter den Hanafiten und Malikiten erachten die Beschneidung der Frau als eine Sunna und noble Tat. Die Beschneidung der Frau sei aber nicht als eine Verpflichtung einzustufen.[10]
Ein überwiegender Grossteil der shafiitischen und hanbalitischen Gelehrten sowie Sahnûn bei den Malikiten erachten die Beschneidung auch für die Frau als eine verpflichtende Sunna/ Wâdjib.[11]
Sie beweisen diese Annahme mit der Offenbarung: «und folge dem Glaubensbekenntnis Ibrâhîms (as) als Anhänger des rechten Glaubens,…» zu der, der Gesandte (sas) laut Ibn Abbas (ra) gesagt hatte: «Ibrâhîm wurde beschnitten als er achtzig war.»[12] Sie schliessen daraus, dass die Aufforderung zur Befolgung von Ibrâhîms (as) Weg nicht ausschliesslich auf den Mann bezogen ist, sondern Allgemeingültigkeit hat und auch weil der Prophet (sas) gesagt hat: «(nach einer Konversion) entledige dich deiner Haare (Scham), des Kufrs und beschneide dich.»[13] Sie beziehen sich auch auf das Hadîth: «wenn der Beschnittene in die Beschnittene eindringt» und sagen, wenn dies für beide vorhanden war, sollte es auch für beide als Verpflichtung gesehen werden. Ausserdem wird die Hygiene unter der Vorhaut auch als Argument angeführt.[14]
Ibn Qudâma, der gewichtige Vertreter der hanbalitischen Rechtsschule, ist in seinem Werk al-Mughnî jedoch anderer Meinung. Die Beschneidung der Frau sei kein Wâdjib, sondern eine zu honorierende Sunna/noble Tat und keine Verpflichtung.[15, 16]
IV. Fazit
In der vorliegenden Zusammenfassung zum Thema Beschneidung der Frau konnte zweifelsfrei aufgezeigt werden, dass es neben der durch die islamische Normativität nicht sanktionierten „pharanonischen“ Beschneidung in den relevanten Rechtsquellen des Fiqhs (Ahâdîth) sehr wohl klare Hinweise auf eine ungleich moderatere Sunna-Praxis (Entfernung der Klitoris-Vorhaut) gibt. Auch die Rechtsgelehrten haben sich nicht über die Validität der Praxis gestritten, sondern einzig über die Frage der Einordnung, als wâdjib oder sunna (mustahabb). Es gibt demnach keine Rechtsschule, die die Beschneidung der Frau nicht mindestens als sunna kategorisiert hätte.
Allahu ‘alam wa ahkam,
Fatwa-Desk/IZRS
*Rechtshinweis: Aufgrund der gesetzlichen Verbote von FGM in einigen Ländern, darunter auch der Schweiz und der Unklarheit hinsichtlich dem rechtlichen Status der Sunna-Beschneidung, ist es ratsam, dass man sich durch eine Fachperson beraten lässt, bevor man einen solchen Eingriff in Erwägung zieht.
1. https://apps.who.int/iris/bitstream/10665/63602/1/WHO_FRH_WHD_96.10.pdf , Seite 16, (Zugriff: 15.02.2018).
2. Frequently Asked Questions on Female Genital Mutilation/Cutting (https://www.unfpa.org/gender/practices2.htm#4).
3. https://www.fgmnetwork.org/intro/fgmintro.html (Unter Definition, Zugriff 15.02.2018) teilweise übersetzt aus dem Englischen.
4. Sunan Abi Dawûd, Buch 43, Hadîth 499, Abu Dawûd selbst ist der Meinung, dass die Überlieferungskette nicht stark sei, al-Albânî meinte sie sei genügend, um den Grad eines Sahîh Hadith (authentischen Hadîth) zu erlangen. Es bleibt jedoch zu sagen, dass sich die meisten Gelehrten dennoch darauf beziehen, um zu definieren was beschnitten werden darf.
5. Al-Maus’ûatu l-fiqhîyah, Band 19, Seite 28, Kuwait 2007.
6. فقد روى الحاكم في مستدركه والطبراني في مجعمه الكبير عن الضحاك بن قيس قال: كان بالمدينة امرأة يقال لها أم عطية تخفض – أي تختن – الجواري، فقال لها رسول الله صلى الله عليه وسلم: „يا أم عطية: اخفضي ولا تُنهِكيِ، فإنه أنضر للوجه، وأحظى عند الزوج“ وصححه الألباني في صحيح الجامع.
وروى أبو داود والبيهقي في سننهما عن أم عطية الأنصارية: أن امرأة كانت تختن بالمدينة، فقال لها النبي صلى الله عليه وسلم: „لا تُنهِكيِ، فإن ذلك أحظى للمرأة، وأحب إلى البعل“ وصححه الألباني.
Zudem muss hier bemerkt werden, dass zum besseren Verständnis der Aussage auch der Text von Maimûna – Umm al-mu’minîn, Frau des Gesandten hinzugezogen werden kann:
وقالتْ ميمونة أم المؤمنين – رضي الله عنها -: „إذا خفضت فأشمِّي (أي: ارفعي) ولا تنهكي، فإنه أسرى للوجه، وأحظى لها عند زوجها“
Vgl. Dr. al-bâr, Muhammad Ali, Khalq al-insân bayna al-tibb wa al-qur’ân, Djedda 1991.
7. https://ar.islamway.net/fatwa/70786/%D8%A7%D9%84%D8%B7%D8%B1%D9%8A%D9%82%D8%A9-%D8%A7%D9%84%D8%B5%D8%AD%D9%8A%D8%AD%D8%A9-%D9%84%D8%AE%D8%AA%D8%A7%D9%86-%D8%A7%D9%84%D8%A5%D9%86%D8%A7%D8%AB, zu Beginn der Erklärung, (Letzter Aufruf: 15.02.2018).
8. Sahîh Muslim 349, Buch 3, Hadîth 107, Bemerkung: Der Beschnittene, die Beschnittene bezieht sich hier auf das jeweilige Genital. Die Übersetzung ist sinngemäss, das arabische Wort al-mass (die Berührung) ist nicht mit einer simplen Berührung beider Geschlechter zu verstehen, sondern mit dem Eindringen des Glieds in die Vagina. (Sharh an-Nawawî zu Sahîh Muslim:
قَوْله صَلَّى اللَّه عَلَيْهِ وَسَلَّمَ : ( وَمَسَّ الْخِتَانُ الْخِتَانَ فَقَدْ وَجَبَ الْغُسْل ) قَالَ الْعُلَمَاء : مَعْنَاهُ غَيَّبْت ذَكَرَك فِي فَرْجهَا ، وَلَيْسَ الْمُرَاد حَقِيقَة الْمَسِّ ، وَذَلِكَ أَنَّ خِتَان الْمَرْأَة فِي أَعْلَى الْفَرْج ، وَلا يَمَسّهُ الذَّكَر فِي الْجِمَاع , وَقَدْ أَجْمَعَ الْعُلَمَاء عَلَى أَنَّهُ لَوْ وَضَعَ ذَكَرَهُ عَلَى خِتَانهَا وَلَمْ يُولِجْهُ (يُدخله) لَمْ يَجِب الْغُسْل , لا عَلَيْهِ وَلا عَلَيْهَا , فَدَلَّ عَلَى أَنَّ الْمُرَاد مَا ذَكَرْنَاهُ . وَالْمُرَاد بِالْمُمَاسَّةِ : الْمُحَاذَاة , وَكَذَلِكَ الرِّوَايَة الأُخْرَى : ( إِذَا اِلْتَقَى الْخِتَانَانِ ) أَيْ : تَحَاذَيَا “ انتهى
9. Sunan Abî Dawûd 4198, Buch 35, Hadîth 40, diese Überlieferung findet sich in Sahîh al-Bukhârî, von Abû Huraira überliefert ebenfalls (Bukhârî Hadîth 5889, Buch 77, Hadîth 106); Auch in al-Muwatta, in Sunan an-Nasâ’î, in Sahîh Muslim Buch 2, Hadîth 63, in Sunan Ibn Mâdja.
10. Al-Maus’ûatu l-fiqhîyah, Band 19, Seite 27, Kuwait 2007.
11. Eine nicht zu unterlassende Sunna. Bei der Wortwahl muss hier präzise gearbeitet werden. Bei den Fuqahâ‘ erreicht die Defintion von Wâdjib nicht immer die Stufe von Farîdh/ Fardh.
12. Bukhârî, Buch 2, Hadîth 388.
13. Sunan Abî Dawûd, Buch 1, Hadîth 253, Ibn Mâdja weist auf einen unbekannten Überlieferer in der Tradantenkette auf.
14. Al-Maus’ûatu l-fiqhîyah, Band 19, Seite 28, Kuwait 2007.
15. Ebd., S.28.
16. Ibn Qudâma, Al-Mughnî, Band 1, S. 85.