Minarett auf dem Bundesplatz am Tag gegen Islamophobie
Minarett auf dem Bundesplatz am Tag gegen Islamophobie

Der Verfassungsartikel schafft rechtliche Ungleichheit zwischen Muslimen und Nicht-Muslimen.

Aufgrund des Volksentscheids vom 29.11.2009 verbietet uns die schweizerische Bundesverfassung in Artikel 72, Abs. 3 den Bau von Minaretten, während Kirchtürme und andere sakrale Turmbauten weiterhin im Rahmen einer lokalen Baubewilligung errichtet werden dürfen.

Das Verbot an sich stellt die freie Kultuspraxis nicht zur Disposition. Das Minarett ist Produkt der architektonischen Entwicklung, zunächst in den bilad ash-sham (vor allem Syrien), während der Phase der islamischen Expansion. In der wissenschaftlichen Literatur existieren verschiedene Thesen, wozu diese Türme errichtet wurden. Eine These tendiert dahin, Minarette als Leuchttürme zu interpretieren, was in etymologischer Kongruenz zu einem der drei gängigen arabischen Begriffen steht: manara (arab. Ort des Feuers, d.h. des Lichts). Eine andere These meint, dass die muslimischen Eroberer den unübersehbaren Kirchtürmen der syrischen Christen ein äquivalentes Symbol entgegenstellen wollten, um die neue Realität, sprich die Präsenz des Islams, ostentativ zur Schau zu stellen. Freilich lässt sich nachweisen, dass der adhan (arab. Gebetsruf), seit es Minarette gibt, von diesen herab ausgerufen wurde. Diese kulturell bedingte Entwicklung macht das Minarett aber noch lange nicht zum Kult. Kultusqualität kann nur beanspruchen, was sich auf die islamische Normativität (iN), d.h. auf den Qur’an oder die authentische Prophetentradition (Sunna) zurückführen lässt. Während im Qur’an jeglicher Hinweis auf das Minarett fehlt, mangelt es in der Prophetentradition an einer klaren Spezifizierung des Begriffs manara. Ausserdem gibt es keine frühislamische Quelle, die die Existenz eines Minaretts, in der Art der heute üblichen Bauten, zu Lebzeiten des Propheten (saws) belegen würde. Aus der Prophetenvita (Sira) entnehmen wir, dass Bilal – N.B. der erste Muezzin – jeweils von einer nur leicht erhöhten Plattform auf dem Dach der Moschee zum Gebet rief.

Es bleibt aus islamisch-normativer Perspektive der bittere Nachgeschmack einer zumindest baurechtlichen Diskriminierung der Schweizer Muslime. Dass eine solche Diskriminierung ganz im Sinne seiner etymologischen Wurzel discernere (lat. unterscheiden) vorliegt, kann auch von den Minarettgegnern nicht negiert werden. Ausserdem dürfte der neue Absatz klar mit dem Art. 8, Abs. 1-2 BV (Rechtsgleichheit) konfligieren.

Welche Konsequenzen diese der Verfassung nunmehr inhärente Inkonsequenz für das Selbstverständnis eines Schweizer Muslims oder einer Muslima haben wird, lässt sich vorläufig nicht sagen. Dringenden Handlungsbedarf von Seiten des Islamischen Zentralrats Schweiz (IZRS) besteht in der Frage nicht. Wir gehen jedoch davon aus, dass die innenpolitische und staatrechtliche Debatte nicht ruhen wird, bis der Gegensatz zur Rechtsgleichheit korrigiert ist. Ausserdem bekräftigen wir unsere Unterstützung für den Rechtsweg, sollte einer muslimischen Gemeinde tatsächlich der Bau eines Minaretts mit Verweis auf den neuen Artikel verboten werden.

Stand: 13.1.2010 / 27. Muharram 1431

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