Bern, 12.02.2011

Von Abdel Azziz Qaasim Illi

01022011_Tahrir_Martyr_BloodEs ist Samstagmorgen. Die islamische Welt erwacht in eine neue Realität. Dreissig Jahre tyrannische Herrschaft am Nil wurden in gerade mal 18 Tagen weggefegt. Noch immer feiern Menschenmassen auf dem Midan Tahrir – noch immer schwingen sie Fahnen und rufen: «yahya masr, yahya ath-thawra» (Es Lebe Ägypten, es Lebe die Revolution.).

Was in Tunesien begann, sich in Ägypten fortpflanzte und nun sich möglicherweise auch auf Algerien und andere muslimische Länder ausweiten könnte, hat definitiv phänomenalen Charakter. Die betroffenen Länder teil(t)en ein Schicksal: Die herrschende Elite regiert diametral zum Volkswillen. Jeder, der Ägypten bereiste, konnte dies an jeder Ecke, in jedem Taxi und bei jedem Besuch einer einheimischen Familie hören: Der Pharao sitze in seinem Abidin Palast, gut bewacht von seiner republikanischen Garde und wirtschafte dank seinem sorgfältig aufgebauten Staatssicherheitsappart das Land unwidersprochen nach Lust und Laune in den Boden. In der Tat, Widerspruch war einigen mutigen Oppositionellen, in jüngster Zeit zunehmend auch jugendlichen Bloggern vorbehalten und führte nicht selten in die Abgründe der unumschränkt waltenden Folterknechte des Regimes. Schon das Wort «shurta» (Polizei) löste bei Ägyptern Assoziationen mit Folter und Willkür aus. Die Polizei zu rufen, galt auch in dringenden Fällen stets als die ultimative Notlösung.

Solche Zustände verbinden die Völker aller nordafrikanischen und vieler arabischen Staaten. Die Konsequenzen für die gesellschaftliche und kulturelle Entwicklung jener Länder liest man heute Ägypten buchstäblich seinen demografischen Kennzahlen ab. Eine bis gestern stabile und korrupte Administration erstickte jeden innovativen Ansatz im Keim. Die Devise: «nur keine Innovation, nur kein kognitives Denken», war staatlich verordnete Maxime auf allen Ebenen. Ein verstaubtes, vormodernes Bildungswesen zwang die Schüler bereits auf Kindergartenstufe ins staatpolitisch vorgegeben Denkkorsett, um eine dem Regime ungünstige gesinnte Jugend wenigstens auf kognitiver Ebene zu schwächen. Dem genealogisch auf den Militärputsch von 1952 zurückgehenden Mubarak-Regime gelang es, nachdem Nasser die Niederlage gegen Israel 1967 unmöglich beschönigen konnte, den Oktoberkrieg von 1973 in den ägyptischen Geschichtsbüchern als Sieg darzustellen. Bis zuletzt setzte Mubarak in seinen realitätsfremd anmutenden Ansprachen auf dieses Pferd. Als Oktober-Krieg Veteran verdiene er Ehre und Vertrauen.

Auch die altehrwürdige Al-Azhar Universität konnte sich seit dem unter Nasser in den 1960er Jahren eingeleiteten Systemwechsel nicht mehr unabhängig fortentwickeln. Die religiöse Führungsebene um den Shaykh al Azhar, wurde vom Präsidenten ernannt und die Vermögenswerte dem Religionsministerium unterstellt. Regierungskritik war fortan genauso tabu, wie jedes andere politische Engagement. Das Regime nutzte die bisher ziemlich unabhängige Institution gnadenlos zur Festigung ihrer Legitimität. Das Dar-ul Ifta‘ (Fatwa Rat) und die al-Majlis al-‘alaa li-shu’uuni l-islamiyya (Der höchste Rat für islamische Angelegenheiten) wurden unter Nasser im Kampf gegen die Muslimbruderschaft zu gefügigen Lakaiengremien umprogrammiert. Auch Mubarak wusste diese Institutionen für seine politischen Interessen geschickt zu nutzen. Der kürzlich verstorbene Shaykh al Azhar, Muhammad Sayyid at-Tantawi wurde wegen seinen berüchtigten Rechtsgutachten in der öffentlichen Meinung geradezu zum Hofnarr des Regimes und zur Witzfigur der islamischen Gelehrtenwelt. Theologiestudenten wandten sich vom Azhar-System zunehmend ab. Wer in Medina keinen Studienplatz fand und sich mit Kairo begnügen musste, blieb den offiziellen Vorlesungen weitestgehend fern und schaute zu, dass er seine Pendenzen zuhause oder mit einem unabhängigen Shaykh abarbeiten konnte, um dann nur noch die Prüfung vor Ort ablegen zu müssen.

Die Träger der ägyptischen Revolution waren sich von Anfang an einig, dass ihre Ziele mit dem Sturz Mubaraks noch lange nicht erfüllt sind. Seit dem 25. Januar schallt der Ruf nach dem Systemsturz «isqaat an-nithaam» durch die Strassen Kairos. Die Protestierenden lehnten die zwischenzeitlich an Moment gewinnenden Beruhigungs-Tendenzen der oberen Mittelschicht vehement ab. Weder Ahmed Shafiq, noch Omar Sulaiman repräsentieren den Volkswillen. Sie werden von den Menschen auf dem Midan Tahrir als reminiszente Marionetten des alten Systems abgelehnt. Die Masse fordert neben politischer Partizipation und der Wiedereinführung ihrer verfassungsmässig garantierten Freiheiten auch gesellschaftliche Gerechtigkeit. Sie schaut in eine völlig neue Zukunft voller Perspektiven und Chancen. Wovon gestern noch geträumt wurde, wird heute auf TV-Kanälen und in Zeitungen offen und kontrovers diskutiert.

Diese neu erwachte Motivation, dieser Ausbruch aus der beinahe regelhaften Stagnation, diese Experimentierfreudigkeit mit dem Unbekannten, dem Neuen könnte sich schon bald positiv auf das islamische Denken in aller Welt auswirken. Muslime im ganzen Nahen Osten, in Europa und den USA solidarisierten sich mit ihren ägyptischen Geschwistern im Kampf gegen den Pharao. Über den qatarischen Satellitensender al-Jazeera dürften weltweit Millionen am Freiheitskampf des ägyptischen Volkes mitgeeifert, mitgeweint und mitgebetet haben. Gut möglich, dass das global via Internet und Al-Jazeera ausgetragenen Fanal zum Kristallisationspunkt von Veränderungs- und Fortschrittsglaube in der islamischen Welt werden könnte. Schliesslich ist Ägypten bekannt für seine pan-islamische Ausstrahlungskraft.

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