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Der Islam lebt von Vielfalt, nicht von Einfalt
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23.10.2025

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Der Islam lebt von Vielfalt, nicht von Einfalt

Der Islam entstand aus Vielfalt. Was einst gelebte Stärke war, ist heute oft zur Angst vor Unterschieden geworden. Ein Blick zurück in eine Zeit, in der Meinungsverschiedenheiten als Quelle von Erkenntnis und Fortschritt galten.

Von Nicolas Blancho 

Der Islam ist keine monolithische Lehre, sondern ein lebendiges System der Erkenntnis, das Differenz und Nachdenken ausdrücklich zulässt. Seine Quellen, Qurʾān und Sunna, begründen eine Kultur der Ambiguität, die den Menschen dazu anhält, in unterschiedlichen Kontexten unterschiedliche Lösungen zu finden – stets auf Basis derselben göttlichen Prinzipien. Diese innere Toleranz, einst Markenzeichen islamischer Gelehrsamkeit, ist heute vielerorts verdrängt von einer Kultur der schnellen Urteile und der harten Grenzziehungen. Doch gerade die Vielfalt der Deutungen ist eine göttlich gewollte Realität und eine Quelle von Stärke, nicht Schwäche.

Qurʾān und Sunna: Vielfalt als göttlich gewollte Realität

Der Qurʾān betont, dass Unterschiedlichkeit keine Abweichung, sondern ein Bestandteil göttlicher Schöpfungsordnung ist:

„Und wenn dein Herr gewollt hätte, hätte Er die Menschen zu einer einzigen Gemeinschaft gemacht; doch sie werden sich weiterhin unterscheiden, außer denen, derer sich dein Herr erbarmt.“ (Q 11:118–119)

Schon dieser Vers zeigt: Verschiedenheit ist Ausdruck göttlicher Barmherzigkeit, nicht ihrer Abwesenheit. Der Qurʾān fordert die Menschen zum Denken auf – „Denkt nach, ihr, die Einsicht habt“ (Q 59:2) – und überlässt ihnen damit die Verantwortung, aus den Zeichen Gottes unterschiedliche, aber wohlüberlegte Schlüsse zu ziehen.

Auch der Prophet (ṣallā Llāhu ʿalayhi wa-sallam) akzeptierte Differenz als natürliche Folge menschlicher Erkenntnis. Als er die Gefährten anordnete, nach der Schlacht zu den Banū Qurayẓa zu eilen und sagte: „Keiner von euch soll das Gebet des ʿAṣr verrichten, bis er bei den Banū Qurayẓa angekommen ist“, verstanden einige dies wörtlich, andere sinngemäß. Beide Gruppen handelten nach bestem Gewissen – und der Prophet tadelte keine. (Ṣaḥīḥ al-Buḫārī, 4119; Ṣaḥīḥ Muslim, 1770)

Damit setzte er einen Maßstab: Divergierende Auslegungen eines göttlichen Befehls, sofern sie auf aufrichtiger Bemühung (iǧtihād) beruhen, sind legitime Ausdrucksformen des Glaubens.

Der Prophet (ṣ) als Lehrer der Toleranz

Noch deutlicher tritt diese Haltung in der berühmten Überlieferung über Muʿāḏ ibn Ǧabal hervor, den der Prophet als Richter in den Jemen entsandte. Auf seine Frage, wie Muʿāḏ urteilen werde, antwortete dieser: „Mit dem Buch Allahs.“„Und wenn du darin nichts findest?“„Dann mit der Sunna des Gesandten Allahs.“ – „Und wenn du darin auch nichts findest?“ – „Dann bemühe ich mich, meine eigene Urteilsfähigkeit anzuwenden.“ Der Prophet legte ihm die Hand auf die Brust und sagte: „Gelobt sei Allah, der den Gesandten des Gesandten Allahs dazu befähigt hat, das zu tun, was Allahs Gesandter liebt.“ (Abū Dāwūd, 3592; at-Tirmiḏī, 1327)

In einer weiteren Überlieferung sagte der Prophet: „Erleichtert, und macht es nicht schwer; verkündet Frohes, und schreckt nicht ab.“ (Ṣaḥīḥ al-Buḫārī, Kitāb al-ʿIlm, 69)

Damit begründete der Prophet nicht nur eine Methodik, sondern eine Haltung: Urteilsfindung soll kontextsensibel, menschenfreundlich und lösungsorientiert erfolgen – keine starre Anwendung von Texten ohne Rücksicht auf Umstände und Menschen.

Die frühe Gelehrtenkultur: Vielfalt als Disziplin

Die frühen Gelehrten verstanden, dass religiöse Wahrheit in ihrer Anwendung immer durch menschliche Begrenztheit gefiltert wird. Deshalb verbanden sie Präzision mit Demut. Imām aš-Šāfiʿī sagte: „Meine Meinung ist richtig – mit der Möglichkeit, dass sie falsch ist; und die Meinung des anderen ist falsch – mit der Möglichkeit, dass sie richtig ist.“ Abū Ḥanīfa betonte: „Dies ist unsere Meinung; wer etwas Besseres bringt, dem folgen wir.“

Diese Sätze sind keine rhetorischen Floskeln, sondern Ausdruck einer tiefen erkenntnistheoretischen Einsicht: Islamische Normenfindung ist keine starre Dogmatik, sondern eine strukturierte Form der Erkenntnis.

Jede Meinung musste überprüfbar, also falsifizierbar, sein – sie musste auf nachweisbaren Prinzipien beruhen (uṣūl), auf Qurʾān, Sunna, Analogieschluss (qiyās) oder Konsens (iǧmāʿ). Selbst in der Methodik und Erkenntnistheorie waren Abweichungen durchaus akzeptiert. Das bedeutete: Verschiedene Ergebnisse waren legitim, solange sie methodisch nachvollziehbar waren. 

Diese Gelehrtenkultur war geprägt von Bescheidenheit. Ibn al-Qayyim überliefert, dass viele Imāme ihre Schüler dazu anhielten, ihre Meinungen zu verwerfen, sobald sich ihnen ein stärkeres Argument zeigte. Eine solche Haltung ist der Inbegriff innerislamischer Toleranz: kein Relativismus, aber eine bewusste Akzeptanz des menschlichen Erkenntnishorizonts.

Ẓannī und Qaṭʿī – die Architektur des islamischen Denkens

Der Islam unterscheidet scharf zwischen qaṭʿī (eindeutigen) und ẓannī (wahrscheinlichen) Beweisen. Nur wenige Bereiche – etwa die fünf täglichen Gebete, die Fastenpflicht im Ramaḍān, die Pflichtabgabe (zakāt), das Verbot von Riba etc.– sind qaṭʿī in Bedeutung und Beweiskraft.

Die überwältigende Mehrheit der Fragen fällt jedoch in den ẓannī-Bereich, das heißt, sie beruht auf interpretierbaren Texten oder überlieferten Wahrscheinlichkeiten. Genau dieser Raum wurde im klassischen Islam zum Feld des iǧtihād – des eigenständigen Urteilens auf Grundlage der verfügbaren Evidenzen.

Diese erkenntnistheoretische Einsicht war revolutionär: Der Islam gab seinen Gelehrten die Freiheit, diametral entgegengesetzte Schlussfolgerungen zu ziehen, solange diese methodisch sauber hergeleitet waren.

Das bedeutet auch: Keine einzelne Gelehrtenmeinung, und sei sie noch so alt oder verbreitet, besitzt einen überzeitlichen Geltungsanspruch. Sie ist immer Produkt ihrer Zeit, ihres Ortes und ihres Kontextes. Abū Ḥanīfa entwickelte seine Schule im intellektuellen Klima des Irak, wo komplexe Handelsbeziehungen, multireligiöse Nachbarschaften und philosophische Debatten herrschten. Mālik hingegen gründete seine Urteile auf die Praxis der Medinenser, die in direkter Nachfolge des Propheten standen. Beide Wege sind legitim – und beide sind Relativierungen des Absoluten im menschlichen Erkenntnisraum.

Eine Loslösung von früheren Meinungen ist deshalb kein Vergehen, sondern Ausdruck derselben schöpferischen Treue zur Offenbarung, die die frühen Imāme antrieben. Wer heute in einem anderen Kontext lebt, darf und muss andere Schlüsse ziehen – sofern er auf dieselben Grundprinzipien aufbaut, d.h. im Rahmen der Normen von Qur’ân und Sunna. 

Moderne Unruhe und digitale Unduldsamkeit

Im Zeitalter sozialer Medien erleben wir eine bedenkliche Erosion dieser intellektuellen Gelassenheit. Plattformen, die ursprünglich zum Austausch gedacht waren, haben sich zu Gerichtshöfen der schnellen Urteile entwickelt. In Sekundenbruchteilen werden religiöse Urteile gefällt, Menschen kategorisiert, „verurteilt“ oder „freigesprochen“ – ohne jede methodische Grundlage.

Diese Dynamik widerspricht der islamischen Ethik zutiefst. Der Qurʾān warnt: „O ihr, die glaubt! Wenn ein Frevler euch eine Nachricht bringt, so prüft sie genau, damit ihr nicht aus Unwissenheit Unrecht tut und bereut, was ihr getan habt.“ (Q 49:6)

Doch genau das geschieht täglich in der digitalen Welt: Urteile ohne Kontext, Härte ohne Wissen, Empörung ohne Empathie. Diese Schnellverurteilungskultur schafft kein Wissen, sondern Misstrauen und Spaltung.

Der Islam aber ruft zu Achtsamkeit und Menschenfreundlichkeit auf. Die Aufgabe der Gläubigen ist es nicht, über Menschen zu richten, sondern sich selbst zu prüfen. Der Prophet (ṣ) sagte: „Wer den Fehler seines Bruders verbirgt, dem wird Allah am Tage der Auferstehung seine Fehler verbergen.“ (Ṣaḥīḥ Muslim, 2699)

Ein religiöser Diskurs, der Menschen herabsetzt, hat seinen ethischen Kern verloren. Wahres Wissen zeigt sich in Gelassenheit – nicht in Lautstärke.

Die Kunst der Gelassenheit – und der Rückgewinn des Geistes der Toleranz

Innerislamische Toleranz bedeutet nicht Beliebigkeit, sondern Verantwortlichkeit. Sie verlangt die Anerkennung, dass jede Meinung, jede Interpretation und jedes Urteil zeit- und kontextgebunden ist. Der Islam lebt nicht von der Erstarrung vergangener Antworten, sondern von der ständigen Wiederbelebung der göttlichen und prophetischen Quellen, auf derer Basis jene Antworten erst enstanden waren. 

Die frühen Imāme wussten um die Relativität ihrer Schlussfolgerungen. Ibn Taymiyya schrieb:

„Wer einen Gelehrten tadelt, weil er in einer Frage eine andere Ansicht vertritt, der hat weder das Wesen der Gelehrsamkeit noch das Wesen der Religion verstanden.“ (Rafʿ al-malām, S. 19)

Gelassenheit im Umgang mit Meinungsvielfalt ist daher keine Schwäche, sondern eine Form von Reife. Sie ist Ausdruck des Vertrauens, dass die Wahrheit Gottes größer ist als jede menschliche Perspektive.

Wenn wir diese Haltung wiedergewinnen, können wir die Kraft des Islams als Orientierungssystem neu entfalten – nicht als starres Korsett, sondern als lebendiges Licht, das in jeder Zeit neue Wege erhellt.

Der Islam ruft uns auf, die Differenz nicht zu fürchten, sondern als Einladung zu tieferem Verständnis zu begreifen. Nur wer lernt, Verschiedenheit zu ertragen, kann Einheit in ihrer wahren, spirituellen Form erfahren.  Wenn wir diesen Geist wiederbeleben, werden wir die intellektuelle und spirituelle Kraft des Islam neu entfalten – eine Kraft, die verbindet statt trennt.

 


 

Endnoten

  1. Ṣaḥīḥ al-Buḫārī, Kitāb al-Maġāzī, 4119; Ṣaḥīḥ Muslim, 1770

  2. Abū Dāwūd, Sunan, 3592; at-Tirmiḏī, Sunan, 1327; Ṣaḥīḥ al-Buḫārī, Kitāb al-ʿIlm, 69.

  3. aš-Šāfiʿī, ar-Risāla, S. 253; Ibn ʿAbd al-Barr, Ǧāmiʿ bayān al-ʿilm, Bd. 2, S. 81.

  4. aš-Šāṭibī, al-Muwāfaqāt, Bd. 4, S. 103; Ibn al-Qayyim, Iʿlām al-muwaqqiʿīn, Bd. 3, S. 283.

  5. al-Qurʾān, Sūrat al-Ḥuǧurāt (49:6); Ṣaḥīḥ Muslim, 2699.

  6. Ibn Taymiyya, Rafʿ al-malām ʿan al-aʾimma al-aʿlām, S. 19–21.

 


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Ambiguität religiöse Toleranz

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