23.06.2025
Das Durchstechen von Körperteilen zum Zweck der Zierde wird im islamischen Recht unter mehreren Aspekten beurteilt: Brauch (ʿurf), gesundheitlicher Schaden (ḍarar), symbolischer Gehalt (tashabbuh) sowie religiöse Einordnung des Eingriffs (Verstümmelung vs. Verschönerung).
Ohrringe – etablierte Sunna
Das Stechen der Ohrläppchen bei Frauen ist durch die Sunna gedeckt. In authentischen Überlieferungen gaben Frauen dem Propheten ﷺ Schmuck von ihren Ohren als Spende (vgl. Ṣaḥīḥ al-Buḫārī, Nr. 1466). Ibn Nujaym (ḥanafītisch) schreibt: „Das Durchstechen der Ohren bei kleinen Mädchen ist zulässig, da es der Verschönerung dient und seit der Zeit des Propheten üblich ist.“ (Baḥr ar-Rāʾiq, Bd. 8)
Alle vier Rechtsschulen erlauben Ohrpiercings bei Frauen, wobei geringe Schmerzen aufgrund des dauerhaften Schmucknutzens toleriert werden.
Nasenpiercing – erlaubt bei kultureller Verankerung
Bei Nasenpiercings gehen die Meinungen auseinander. In vielen Kulturen (etwa Südasien, Arabien) ist der Nasenring ein traditioneller Teil weiblicher Zierde. Gelehrte wie Ibn ʿĀbidīn (ḥanafītisch) schreiben: „Wenn es zu den Gewohnheiten der Frauen gehört, ist es wie das Ohrlochstechen und daher zulässig.“ (Radd al-Muḥtār, Bd. 6)
In der šāfiʿītischen Schule äußerte sich al-Qalyūbī zurückhaltender: „Ist es in der Gegend nicht üblich und wird nicht als Zierde empfunden, ist es nicht erlaubt.“ (Ḥāšiyat al-Qalyūbī, Bd. 1, S. 120) Ibn Ḥaǧar al-Haytamī (šāfiʿītisch) sprach sich explizit gegen Nasenringe aus, da sie in seinem Umfeld „keinerlei Zierfunktion“ erfüllten. Das zeigt: Die Rechtmäßigkeit hing stark vom lokalen ʿurf (Gewohnheitsrecht) ab.
Heutzutage ist das Nasenpiercing vielerorts verbreitet, auch unter Musliminnen. In dieser veränderten Realität neigen zeitgenössische Fatwā-Gremien zur Erlaubnis – sofern kein Schaden entsteht und die Intention rein ist.
Lippen-, Zungen-, Brauenpiercing – moderne Erscheinung mit Vorsicht zu bewerten
Diese Formen des Piercings sind historisch kaum belegt und wurden klassisch selten behandelt. Ihre Bewertung erfolgt daher anhand folgender Kriterien:
Wenn diese Aspekte verneint werden – d. h., wenn die Praxis kulturell normal ist, keine Gesundheit gefährdet und kein anstößiger Kontext vorliegt –, lässt sich islamrechtlich kein klares Verbot aussprechen.
Der Fall des Bauchnabelpiercings – exemplarisch
Obwohl nicht im Gesicht, wird er häufig diskutiert. Der Nabel gehört zur ʿawra der Frau, und Schmuck an dieser Stelle birgt die Gefahr, den Blick fremder Männer auf intime Zonen zu lenken. Dennoch ist ein Piercing dort nicht ḥarām, solange es nicht zur Zurschaustellung führt, sondern etwa für den Ehemann gedacht ist – eine Einschätzung, die viele zeitgenössische Gelehrte teilen (vgl. Islamweb Fatwa Nr. 506185).
Für Männer: Klare Untersagung
Schmuckpiercings im Gesicht sind für Männer nicht erlaubt, da sie unter die verbotene Imitation weiblicher Zierde fallen (tashabbuh bi-n-nisāʾ). Der Prophet ﷺ sagte: „Allah hat diejenigen verflucht, die sich gegenseitig in Kleidung oder Auftreten des anderen Geschlechts nachahmen.“ (Abū Dāwūd, Nr. 4098)
Fazit:
Islamisches Recht kennt in uneindeutigen Fragen keine Pauschalverbote, sondern prüft individuell nach ʿurf, Absicht, Nutzen und Schaden. Insofern kann ein Nasenpiercing für Frauen zulässig sein – ein Zungenpiercing kann aber als überflüssige Selbstverletzung gelten, wenn eine Gefahr nachgewiesen wird. Maß, Sittlichkeit und Brauch entscheiden.
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