Der Islamische Zentralrat Schweiz (IZRS) spricht den Opfern der Messerattacke in Lugano sein Mitgefühl aus. Der Rat verurteilt die Tat scharf, warnt aber in seiner Stellungnahme vor voreiligen Schlüssen und Reaktionismus.

Kommuniqué 25112020 – 0174

Der Islamische Zentralrat Schweiz beobachtet die erneut aufflammende IS-Gewalt in Europa mit grosser Sorge. Inwiefern der gestrigen Messerattacke in Lugano tatsächlich ein terroristisches Motiv zugrunde liegt, müssen die laufenden Ermittlungen nun zeigen. Es sei darauf hinzuweisen, dass auch unter muslimischen Tatverdächtigen – selbst oder gerade wenn sie einem IS-affinen Weltbild anhängen – psychische Erkrankungen nicht weniger häufig auftreten, als dies bei allen anderen Menschen der Fall ist. Es ist also durchaus möglich, dass im vorliegenden Fall letztlich nicht die mutmassliche IS-Affinität der Tatverdächtigen sie zur Tat bewegte, sondern eine akute oder latente psychische Erkrankung bzw. ein anderes Motiv wie Habgier, Hass oder Eifersucht.

Appell an die Vernunft

Unabhängig davon appelliert der IZRS an die Vernunft im Umgang mit der sich europaweit möglicherweise weiterhin zuspitzenden Situation. Der Rat warnt seit 2014 konsistent und wiederholt vor der Gefahr, die vom IS ausgeht. Leider ist auch unser Land gegen Angriffe durch einsame Wölfe nicht immun. Um dem barbarischen IS-Masterplan effektiv begegnen zu können, muss man zunächst anerkennen, dass jener nicht – wie oft behauptet – «fanatischer» oder «irrationaler» Natur ist. Vielmehr zielt er darauf ab, durch einfach auszuführende und schwer bis gar nicht zu verhindernde Angriffe in Europa ein Klima der Angst und des Hasses zu erzeugen.

Die erhoffte Wirkung dieses Klimas ist der politisch unreflektierte Reaktionismus: mehr staatliche Überwachung, Abbau von Bürgerrechten und neue Gesetze, die von Muslimen als diskriminierend wahrgenommen werden. Damit strebt der IS mit vergleichsweise wenig Aufwand gleich zwei Etappenziele an: Erstens steigt die Bereitschaft, die mühsam erkämpften Grundrechte zu Gunsten von vermeintlicher Sicherheit schrittweise aufzuweichen. Damit untergräbt Europa das Fundament, worauf es fusst und passt sich zunehmend nicht nur dem, bei IS-Ideologen hoch im Kurs stehenden, Autoritarismus an, sondern ebnet gleichzeitig auch den trennenden Graben zu den hiesigen systemkritischen rechtsextremen Faschismusspielarten ein. Andererseits nutzen insbes. Letztere die Ausgangslage, um Muslime durch Symbolpolitik weiter zu diskriminieren und aus der Gesellschaft auszugrenzen. Ein Minarett- oder Schleierverbot wird rational betrachtet keinen einzigen Anschlag verhindern. Vielmehr fördert Diskriminierung die Radikalisierung, was dem IS die weitere Ausbreitung seiner giftigen Ideologie erleichtert.

Die Eskalationsspirale durchbrechen

Ein vernünftiger Umgang mit solchen Attacken muss heissen, diese drohende Eskalationsspirale zu durchbrechen und nicht in die Falle des IS zu treten. Konkret sollte solchen Gewalttäter/innen möglichst keine mediale Aufmerksamkeit geschenkt werden. Die sich viral und oftmals international verbreitenden «Breaking News» animieren mögliche Trittbrettfahrer erst recht, es dem Vorgänger gleich zu tun. Sie vermitteln das Gefühl von Macht und Einfluss. Anstatt Selfies des Täters sollten Medien, wenn schon, ein Bild seiner erschossenen Leiche publizieren. Behörden sollten bis zur Klärung des Motivs von voreiligen Mutmassungen absehen. Politikern ist anzuraten, im Bewusstsein um die Absicht des IS und die Unmöglichkeit, solche Taten restlos zu verhindern, die Bevölkerung darauf einstimmen, dass der Kampf nicht mit dem Abbau von Bürgerrechten bzw. der Diskriminierung der Muslime zu gewinnen sein wird, sondern nur mit konsequenter und gezielter Verfolgung der Täter selbst.

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