Leitfaden für uneinsichtige Kommunal- und ungebildete Schulbehörden sowie übereifrige Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber 

Das «Milchmädchen» – ein Öl-auf-Leinwand-Gemälde aus dem Jahre 1658 – von Johannes Vermeer (1632-1675) im Rijksmuseum in Amsterdam gilt als eines der bekanntesten Werke des sogenannten Goldenen Zeitalters der Niederlande. Das Bild des Mädchens mit dem Kopftuch sorgt jetzt in Facebook für Furore; als Symbolfigur gegen islamfeindliche Hijab-Verbote am Arbeitsplatz. Auch in der Schweiz keine Seltenheit; Arbeitgeber und Schuldirektorinnen und Schuldirektoren dürfen sich schon mal eine warme Mütze aufsetzen. 

Von Hajji Oscar A.M. Bergamin
Bern, 12.03.2011

Vermeer-Bilder-HijabIn den Niederlanden ist der Hijab – trotz in den Medien anderslautenden politischen Entwicklungen mit Geert Wilders als Hauptfigur – normaler Bestandteil der Arbeitsbekleidung in praktisch allen Geschäften und Läden des Landes. Jetzt hat die niederländische Grossverteiler-Supermarktkette HEMA (vergleichbar mit Migros oder Coop in der Schweiz) aber in einer belgischen Filiale einer jungen Frau den Hijab verboten, «weil belgische Kunden daran Anstoss genommen haben», wie die renommierte niederländische Zeitung «NRC Handelsblatt» und die belgische «Standaard» am 8. März berichteten. Der Konzern HEMA ist eigentlich nicht bekannt für eine anti-muslimische Haltung. Die Geschäftskette versucht seit geraumer Zeit muslimische Kunden anzuziehen, zum Beispiel mit speziellen Aktionen zum Eid Al-Fitr/Bajram. Dennoch habe sich das Unternehmen nach den «Kundenwünschen» und an «belgischen Gepflogenheiten» anpassen wollen, heisst es in einer Pressemitteilung des Unternehmens. Nun ist es nach holländischen Begriffen schon ein bisschen merkwürdig, sich «belgischen Verhältnissen» anpassen zu wollen, aber das ist ein anderes Thema. Der Vertrag von HEMA mit der Muslima (vermittelt durch das auch in der Schweiz tätige Personalvermittlungsunternehmen Randstad) wurde nicht verlängert. Wer nun glaubt, dass die Niederländer in dem vom äusserst rechts und islamfeindlichen politisierenden Geert Wilders erschütterten Land dies einfach hinnehmen würden, täuscht sich. Es ging am 8. März – am internationalen Tag der Frau – auch gleich eine Welle der Empörung durch die Medien, und… durchs Internet.

«Wir wollen nur noch die Kassiererin mit dem Kopftuch»

Mit dem kopftuchtragenden «Milchmädchen» vom protestantischen Maler Vermeer aus dem 17. Jahrhundert haben sich die Niederländer auch gleich eine «Gallionsfigur» gegen Wilders und seine islamfeindliche Politik ins Boot geholt. Auf der Facebook-Seite «Deze staan morgen ook aan de stoeprand bij de HEMA echt waar!» (Diese stehen morgen auch bei der HEMA auf dem Trottoirrand, wirklich!) wirbt das «Milchmädchen» zusammen mit dem von Vermeer geschaffenen und kopftuchtragenden «Mädchen mit der Perle» für eine sogenannte «Einkaufskorb-Aktion». Auf Deutsch übersetzt heisst es dort: «Geht im Warenhaus mit dem vollen Einkaufskorb zum Kasse. Fragt dort wo die Mitarbeiterin mit dem Kopftuch sei, und wenn sie nicht da ist, lasst ihr den Einkaufskorb einfach stehen. Dann sollen sie eben die Ware selber zurück in die Regale sortieren; das schafft Arbeitsplätze in der Filiale und ist teuer für die Ausbeuter». Und die Reaktionen im Facebook sind ganz lustig: Kundenservice oder «Wir wollen nur noch die Kassiererin mit dem Kopftuch», heisst es dort. zur

Auch bei COOP Schweiz und bei Fielmann ist der Hijab unerwünscht

Dem Islamischen Zentralrat Schweiz (IZRS) liegt die schriftliche Bestätigung eines Presseverantwortlichen des Grossverteilers Coop vor, wonach der Hijab auch in der Schweizer Supermarktkette nicht geduldet werde – im Gegensatz zur Migros, wo dies offenbar erlaubt ist. Und das Protokoll eines Telefonats mit der Ausbildungschefin vom Brillen-Konzern Fielmann Schweiz bestätigt, dass dort auch die möglichen «Ängste» der Kunden – das heisst die Angst vor Umsatzeinbussen – höher gewertet werden als das von der Schweizerischen Bundesverfassung garantierte Recht auf Religionsfreiheit. Für die eine oder andere muslimische Familie (von Unternehmen oft unterschätze 400‘000 Personen auf dem Marktplatz Schweiz) vielleicht ein Grund, ihre Brille künftig woanders zu kaufen.

Die Sachlage ist alles andere als unklar! Sie ist sehr klar!

Es ist langweilig, ja todlangweilig! Und trotzdem schaffen es völlig unbedeutende Gemeindepolitiker oder Schuldirektorinnen und sogar in der Bildungspolitik total versagende Regierungsräte immer wieder Schlagzeilen zu machen, indem sie auf Frauen und junge Mädchen herum hacken, die einen Hijab tragen wollen oder wie die Zeitung «Der Bund» vergangene Woche berichtete, Dorfpolitiker versuchen Frauen im Burkini am Schwimmen zu hindern. «Die Sachlage ist unklar», heisst es dann immer wieder in der Zeitung.

 

Unter dem Schutz der Budesgesetzgebung stehen alle Religionen, unabhängig von ihrer quantitativen Verbreitung in der Schweiz

Wie oft muss ich wieder in die Tasten greifen und sinnlos meine Finger wund schreiben, um klar zu machen, dass alles so klar ist? Niemand, der einen Hijab trägt, bedroht dadurch andere oder schränkt damit Rechte und Freiheiten anderer ein. Es macht daher in einer demokratischen Gesellschaft keinen Sinn, das Tragen von Kopftüchern zu verbieten – weder im Interesse der öffentlichen Sicherheit, zum Schutze der öffentlichen Ordnung, der Gesundheit, der Moral oder zum Schutze der Freiheitsrechte anderer. Auch das kürzlich erlassene Verbot des Westschweizer Radio und Fernsehens (RTS) von Kleidungsstücken mit religiösem Bezug dürfte irgendwann wieder aufgehoben werden, weil es schlicht nicht zulässig ist. Hier daher noch mal eine Auflistung:

-Ein Verbot des Tragens von einem Hijab beziehungsweise Kopftuch am Arbeitsplatz oder in der Schule ist für eine Muslima eine Einschränkung ihrer Grundrechte. Für ein Verbot des Kopftuches – das die Religionsfreiheit der betroffenen Frau einschränkt – gibt es keine gesetzliche Grundlage, wie sie in Art. 36 Abs. 1 BV vorgeschrieben ist.

-Schul- oder Betriebsinterne Regeln, keine Kopfbedeckung zu tragen, sind keine demokratisch erlassenen Gesetze.

-Die Bundesverfassung gewährleistet die Glaubens- und Gewissens-freiheit (Art. 15 Abs. 1 BV) und räumt jeder Person das Recht ein, ihre Religion und ihre weltanschauliche Überzeugung frei zu wählen und allein oder in Gemeinschaft mit andern zu bekennen (Art. 15 Abs. 2 BV). Unter diesem Schutze stehen nicht nur die traditionellen Glaubensformen der christlich-abendländischen Kirchen und Religionsgemeinschaften, sondern alle Religionen, unabhängig von ihrer quantitativen Verbreitung in der Schweiz (BGE 119 Ia 178 E. 4b S.184; BGE 123 I 296 E. 2b/aa S. 300).

-Die Religionsfreiheit umfasst sowohl die innere Freiheit, zu glauben, nicht zu glauben oder seine religiösen Anschauungen zu ändern. Wie auch die äussere Freiheit, entsprechende Überzeugungen innerhalb gewisser Schranken zu äussern, zu praktizieren und zu verbreiten (BGE 123 I 296 E. 2b/aa S. 300; BGE 119 Ia 178 E. 4c S. 184).

-Sie enthält den Anspruch des Einzelnen darauf, sein Verhalten grundsätzlich nach den Lehren des Glaubens auszurichten und den Glaubensüberzeugungen gemäss zu handeln. Religionen erheben tendenziell einen bestimmten Anspruch an die Lebensführung der Einzelnen, der mit gesellschaftlich verbindlichen Ordnungen in Konflikt geraten kann (Jörg Paul Müller / Markus Schefer, Grundrechte in der Schweiz, im Rahmen der Bundesverfassung, der EMRK und der UNO-Pakte, 4. Aufl., Bern 2008, zu Art. 15 BV, S. 254 u. 255).

-Zur derart gewährleisteten Religionsausübung zählen über kultische Handlungen hinaus auch die Beachtung religiöser Gebräuche und andere Äusserungen des religiösen Lebens im Rahmen gewisser übereinstimmender sittlicher Grundanschauungen der Kulturvölker, soweit solche Verhaltensweisen Ausdruck der religiösen Überzeugung sind (BGE 123 I 296 E. 2 a; BGE 119 Ia 178 E. 4c S. 184).

«Glaubensinhalte sind grundsätzlich nicht zu bewerten»

-Die Ungleichbehandlung wegen eines religiösen Bekenntnisses lässt sich durch keinerlei qualifizierte und objektive Gründe rechtfertigen. Glaubensinhalte, die ein religiös motiviertes Verhalten begründen oder bestimmte Bekleidungsweisen nahelegen, sind grundsätzlich nicht zu überprüfen und zu bewerten (vgl. BGE 119 Ia 178 E. 4c S. 185). Art. 8 Abs. 2 BV ist insoweit Ausdruck weltanschaulicher Pluralität und gebietet im Grundsatz die Anerkennung von Bekenntnissen und Überzeugungen, die von den in der Schweiz herkömmlichen Vorstellungen abweichen.

-Die Regel, dass Schüler oder Mitarbeiterinnen keine Kopfbedeckung tragen sollen, schafft nicht, wie vorgegeben Rechtsgleichheit, sondern Rechtsungleichheit, weil sie nicht der Tatsache Rechnung trägt, dass das Verbot nicht alle Schülerinnen und Schüler in gleicher Weise trifft. Es schränkt einseitig die Religionsfreiheit der Schülerinnen oder Mitarbeiterinnen ein, die wegen ihres Glaubens das Kopftuchtragen als ihre religiöse Pflicht betrachten.

-Art. 8 Abs. 2 BV gilt auch für Religionsbekenntnisse, welche – wie der Islam – die auf den Glauben gestützten Verhaltensweisen sowohl auf das geistig-religiöse Leben wie auch auf weitere Bereiche des alltäglichen Lebens beziehen (BGE 119 Ia 178 E. 4c S. 185). Insoweit werden religiös bedingte Bekleidungsvorschriften wie das Tragen des Kopftuches vom Schutz von Art. 15 BV erfasst (BGE 123 I 296 E. 2b/aa S. 300; BGE 119 Ia 178 E. 4c S. 184).

Bundesgericht: «Das islamische Kopftuch stellt kein Symbol dar»

-Das islamische Kopftuch «Hijab» stellt kein Symbol dar. Daran vermochten, gemäss bundesgerichtlicher Praxis, selbst Behauptungen einzelner, die Einbürgerung ablehnender Einwohnerräte, die dem Tragen des Kopftuches den religiösen Charakter aberkennen wollten, nichts zu ändern. Die Befolgung der aus dem Koran abgeleiteten Übung kann auf eigenständigem Entschluss der Frauen selber beruhen, ihren Glauben auf diese Weise zu manifestieren. Insoweit erweist sich das blosse Tragen des Kopftuches in der Regel als wenig aussagekräftig und wertneutral. Das blosse Tragen des Kopftuches bringt für sich keine gegen rechtsstaatliche und demokratische Wertvorstellungen verstossende Haltung zum Ausdruck (BGE 134 I 49 S. 54).

Bedeutung von Art. 36 BV für die Kantone

-Aus föderalistischer Sicht ist es wichtig zu sehen, dass nicht nur über die Grundrechte in der BV, der EMRK und des UNO-Pakts II die Möglichkeiten der kantonalen Politikgestaltung eingeschränkt werden können, sondern auch durch die Vorgaben betreffend die zulässigen Grundrechtseinschränkungen. Die in der BV und in den Menschenrechtsverträgen zu findenden spezifischen Schranken sind auch für die Kantone bindend. In der Wahl der rechtfertigenden öffentlichen Interessen sind die Kantone also nicht vollkommen frei.

-Ein Konflikt zwischen Bundesrecht und kantonalem Recht wird im Sinne des Vorrangs des Bundesrechts (Art. 49 Abs. 1 BV) gelöst: Bundesrecht bricht kantonales Recht.

Die politischen Bemühungen, Muslime durch Kleiderordnungen auszugrenzen gehen aber weiter, wie die Debatte im Ständerat vom vergangenen Mittwoch, 9. März zeigte, als es um ein nationales «Verhüllungsverbot» ging. Aber langfristig gesehen, wird dies für das Land kontraproduktive Folgen haben. Wie in den Niederlanden wird auch hier zu Lande ein immer stärker werdender Loyalitätskonflikt spürbar. Und auch die Muslimische Facebook-Community in der Schweiz wächst und gewinnt zunehmend an Sympathie. Eines muss eindeutig verstanden werden: Loyalität ergibt sich nicht durch Ausgrenzung. Ich freue mich auf den Tag, an dem die Kunden im Supermarkt ihr Einkaufskörbchen stehen lassen, weil die Kassiererin mit dem Kopftuch nicht da ist.

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